Auf dem Mistwagen ins Diakonissenhaus

Rosengarten. In diesem Jahr feiert das Diak, das Evangelische Diakoniewerk Schwäbisch Hall, sein 125jähriges Jubiläum. Rund 2.900 Personen arbeiten heute im Diak und seinen Einrichtungen. Die Gemeinde Rosengarten erfüllt es mit Stolz, dass die erste Diakonisse, mit der am 1. Februar 1886 das 30-Betten-Krankenhaus eröffnet wurde, eine 23 Jahre alte Frau aus Tullau war.

Am 24. Oktober 1862 wurde in Tullau Elisabeth Katharine Dorothea Weidner als Tochter der Bauerseheleute Gottlieb Johann Michael Weidner (1835-1907) und Rosine Katharine geborene Englert (1832-1908) geboren. Sie hatte noch einen jüngeren Bruder Johann Friedrich Weidner (1867-1932), der das elterliche Anwesen übernahm. Ihr Großvater Johann Jakob Englert war Schultheiß in Uttenhofen. Sie besuchte die Volksschule in Steinbach und wurde in Schwäbisch Hall konfirmiert.

Als Elisabeth Weidner im Konfirmandenunterricht einmal ein Missionstraktat erhielt, weckte dies in ihr das Interesse „auch einmal etwas für den Heiland zu tun.“ Doch zunächst nahm ihr Leben einen anderen Verlauf. Nach der Konfirmation kam eine harte Zeit. Die Tätigkeit als Magd bei einem Großbauern überforderte ihre Kräfte und so holte die Mutter ihre Lisbeth, wie sie sie liebevoll nannte, wieder ins Elternhaus. Bald darauf war Lisbeth dann Dienstmädchen bei Fabrikant Max Kade und ab 1881 in verschiedenen Haller Pfarrersfamilien. In ihrer Steinbacher Zeit begegnete sie oft den katholischen Ordensfrauen, die dort als Gemeindeschwestern tätig waren. Sie war tief beeindruckt und am liebsten wäre sie katholisch geworden. Doch als sie erfuhr, dass es in der evangelischen Kirche auch einen ähnlichen Frauenberuf nämlich Diakonisse gab, war ihr Wunsch klar, nun gab es kein Aufhalten mehr. Dem kam entgegen, dass zu jener Zeit Pfarrer Hermann Faulhaber in Hall ein Diakonissenhaus gründen wollte.
Doch es gab noch ein großes Hindernis. Der Vater wollte den Berufswunsch nicht genehmigen. Schließlich war der Eintritt in ein Mutterhaus teuer und die Tochter erhielt nur ein Taschengeld in Höhe von 5 Mark im Monat, von dem sie auch noch ihre persönlichen Gegenstände und Wäsche bestreiten musste. Für die Unterstützung der Familie blieb da nichts übrig. „Dann siehscht dei Mädle nimmer, ond’s Vermöga därfsch au glei auszahle“, so und ähnlich haben ihm die Leute eingeredet. Stadtpfarrer Eduard Gerok, bei dem Lisbeth Religionsunterricht erhielt, der sie konfirmierte und den sie sehr verehrte, kam ihr zur Hilfe. Er sprach mit dem Vater und fand die richtigen Worte, so dass der Vater einwilligte, dass seine Tochter Lisbeth Diakonisse wird.
In der Folgezeit hat Lisbeth Weidner ihre Sachen zusammen gerichtet und auf Ihren Dienstantritt gewartet. Sie berichtet dazu folgendes: „Am 18. Januar 1886 bekam ich ein Brieflein von Frau Stadtpfarrer Gerok, darin stand: Morgen um 8 Uhr sollst Du bei mir und um ½ 9 Uhr im Diakonissenhaus sein. Da bestellte meine Mutter am Abend noch einen Bauern, der mich hereinführte und zwar auf einem Mistwagen. Meine liebe Mutter begleitete mich. Um 8 Uhr fuhren wir am Stadtpfarrhaus vor. Frau Stadtpfarrer gab uns ihr Mädchen mit, auch Fleisch, Nudeln, Kartoffeln, damit wir kochen könnten, dazu auch einen Spüllumpen, und sagte, wenn niemand da sein sollte, soll ich Feuer machen und das neue Geschirr spülen. Um ½ 9 Uhr waren wir am Diakonissenhaus. Das Haus stand offen. Ein Mann namens Vogel, der hernach unser Wärter war, wohnte den ganzen Winter allein im Haus und heizte es, damit es austrocknete. (Der Wärter  wies Lisbeth Weidner ein Zimmer an). In dieses Zimmer stellte ich meine Sachen. Als ich die Treppe hinunterlief, kam Frau Oberin Sophie Pfizmajer gerade zur Haustüre herein. Ich werde es nie vergessen, wie herzlich sie mich begrüßte und mir Gottes Segen wünschte.“
Nach dem tränenreichen Abschied von der Mutter gab es in den folgenden Tagen noch viel zu tun. Noch im Januar 1886 kamen als zweite und dritte Schwester Katharina Weller aus Ingelfingen und Pauline Schiefer aus Däfern ins Haus. Am 1. Februar 1886 wurde das Diakonissenhaus, das heutige Stammhaus, mit 30 Krankenbetten, der Wohnung von Pfarrer Faulhaber, dem Zimmer der Frau Oberin, den Schlafräumen der Schwestern und den Wirtschaftsräumen eröffnet. Schon am gleichen Abend trafen die ersten drei Patienten ein, die von Dr. Robert Dürr und seinem Sohn Dr. Richard Dürr behandelt wurden.
Im Oktober 1886 wurde Schwester Lisbeth zur Typhuspflege nach Tiefenbach abgeordnet, wo sie das Heimweh nach Hall plagte: „Jeden Abend lief ich dem Sonnenuntergang zu im Gedanken, in dieser Richtung müsse Hall liegen.“ Die Tätigkeit war bald beendet und Schwester Lisbeth kam für zwei Jahre zurück ins Haller Krankenhaus.

Als am 10. April 1888 in Langenburg die erste Gemeindediakoniestation eröffnet wurde, war Schwester Lisbeth wiederum die erste die diese verantwortungsvolle Arbeit übernahm. Diese Aufgabe war nicht einfach, galt es doch die Menschen erst von dem segensreichen Wirken einer Gemeindeschwester zu überzeugen. Fürstin Leopoldine von Hohenlohe-Langenburg hat sie in vielfältiger Form dabei unterstützt und ermuntert.
Bald hieß es aber wieder zurück ins Mutterhaus und 1890 erneut in die Gemeindearbeit nach Edelfingen. Während dieser Zeit verließ die erste Oberin wegen Differenzen mit Pfarrer Faulhaber das Mutterhaus. Das war für Schwester Lisbeth ein schwerer Schlag. Im Mutterhaus übernahm Schwester Lisbeth 1893 die Leitung des Johanniter-Kinderhauses. In dieser Arbeit war sie besonders glücklich und hatte große Freude an den Kindern.
Bald kamen Jahre der Wirrnis, der Not und des nahen Zusammenbruchs für ihr so geliebtes Mutterhaus, was schließlich zur Trennung von Pfarrer Faulhaber führte, der mit seiner „Haller Industrie“ 1899 wirtschaftlich gescheitert war. Für Schwester Lisbeth brach eine Welt zusammen. Mit erstarkter Glaubenskraft konnte sie die Zeit bitterer Enttäuschungen und Anfechtungen überstehen und durchhalten.

Doch alsbald begann, wie sie später feststellte, der glücklichste Teil ihrer Lebensarbeit. Der neue Leiter der Evangelischen Diakonissenanstalt Pfarrer Gottlob Weißer und Oberin Emma Weizsäcker begannen am 1. Mai 1900 die Schwachsinnigenpflege, deren Leitung Schwester Lisbeth übertragen wurde. Zuvor hatte sie sich in der Anstalt Stetten auf diese Aufgabe vorbereitet.

„Je hilfebedürftiger eins war, umso reicher floss ihre mütterliche Liebe ihm zu. Da gab es für sie keinen Ekel und mochte der Zustand, in dem sich der Pflegling befand, noch so übel sein. Hilfe war not, und sie gab sie sofort und mit freudigem Herzen“, so wurde über sie geurteilt. Mit dem Umzug 1912 in das neu erbaute Schwachsinnigenheim, das heutige Gottlob-Weißer-Haus, wurde die Verantwortung für Schwester Lisbeth noch größer.

Wer damals als Diakonisse begann musste in der Schwachsinnigenpflege beginnen. Bei dem vielfältigen Elend hielten nicht alle durch. Trotzdem wurde für viele Schwestern dieser Anfang bei den Schwächsten nach der ersten Überwindung zu einer besonderen, ja glücklichen Zeit. Eine junge Schwester, die auch unter Tränen fast versagte, berichtet: „Aber da war Schwester Lisbeth, die uns anleitete und immer wieder zurecht half. Wir konnten mit allem zu ihr kommen. Zwar war sie streng und verlangte viel. Aber so wie sie ein mütterliches, liebevolles Herz für unsere Pflegebefohlenen hatte, so durften wir Schwestern ihre Liebe und Fürsorge tagtäglich spüren.“

So war der Schmerz groß, als Schwester Lisbeth am 19. März 1928 durch einen Schlaganfall im Alter von 65 Jahren aus Ihrer Arbeit abberufen wurde. Über ihren 42 Jahren Schwesternarbeit, davon 28 Jahre in der Behindertenarbeit, steht das Wort Jesu: „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“. Dieses Bibelwort steht auch an der Eingangstür des 1906 erbauten jetzigen Mutterhauses.

1996 hat das Hällisch-Fränkische Museum mit den Partnerstädten der Stadt Schwäbisch Hall eine viel beachtete Ausstellung „Töchter Europas – Frauen machen Geschichte“ durchgeführt. Aus Schwäbisch Hall wurden fünf Frauen vorgestellt, darunter Schwester Lisbeth Weidner, die zweifelsohne im sozialen Bereich regionale Frauengeschichte geschrieben hat.

Mit dem Gedenken aus Anlass des 125jährigen Bestehens des Diak an Schwester Lisbeth aus Tullau bringt die Gemeinde Rosengarten und ihre Einwohnerschaft die enge Verbindung zur segenreichen Einrichtung des Diak dankbar zum Ausdruck. Jürgen König
Quellen: Archiv Diak Bestand 25/1; Gemeindearchiv Rosengarten; Margarete Zeuner: Lisbeth Weidner (1862-1928) in Menschenzeit 1900-2000, 100 Jahre Behindertenarbeit, Seite 18-19; Heike Krause: Einem Menschen Nächster sein, Die Geschichte des Evangelischen Diakoniewerks Schwäbisch Hall, 2005; 125 Jahre Diak, Sonderbeilage des Haller Tagblatts vom 1. Februar 2011.

Anmerkung:
Im Wohngebiet Burrberg in Tullau hat der Gemeinderat 2008 in Erinnerung an die erste Diakonisse eine Wohnstraße mit „Lisbeth-Weidner-Weg“ bezeichnet.